Exkursionsbericht: Spuren des Krieges: NS-Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit in Niederschlesien, 10.-14.06.2024
Ausgangspunkt unserer Exkursion war Görlitz, die östlichste Stadt und zugleich das größte Flächendenkmal Deutschlands. Trotz einer hindernisreichen Fahrt mit der Bahn bot uns der Abend unserer Ankunft noch ausreichend Gelegenheit, die historische Altstadt mit ihren beeindruckenden Spätgotik-, Renaissance- und Barockbauten – die beliebte Filmkulisse „Görliwood“ – zu erkunden. Am nächsten Morgen erhielten wir im Schlesischen Museum einen Überblicksführung zur Geschichte Nieder- und Oberschlesiens von der Reformation bis zur NS-Zeit. Damit war der historische Hintergrund für unser Thema, die NS-Verbrechensherrschaft und NS-Kriegswirtschaft im heutigen Grenzraum von Bundesrepublik, Polen und Tschechien, hier vor Ort, gelegt.
Eine Fahrradtour, organisiert und geleitet durch die Leiterin des Meetingpoint Memory Messiaen, Alexandra Grochowski, durch Gründerzeit- und Arbeiterviertel, verdeutlichte, dass Görlitz bis zum Ende des Zeiten Weltkrieges ein bedeutender Industriestandort war. Die Tour führte vom Güterbahnhof als Verteilstelle für ankommende „Fremdarbeiter“ zu den über das ganze Stadtgebiet verteilten Einsatzorten und Außenlagern für Zwangsarbeiter*innen. Darunter auch auf die Gelände der ehemaligen Werke der Waggon- und Maschinenbau AG Görlitz (WUMAG), einem wichtigen Rüstungsbetrieb, auf denen sich Außenlager befanden, in denen Kriegsgefangene und sogenannte zivile „Fremdarbeiter“ untergebracht waren. Die Gelände inmitten idyllischer Kleingartenanlagen, deren Nutzer der Erinnerungsarbeit vor Ort eher feindlich gegenüberstehen, werden heute von Siemens und Bombardier genutzt. Ein mit einem Graffiti „Scheiß Juden“ verunstalteter Gedenkstein aus der DDR-Zeit am Rande einer Kleingartenanlage ist der einzige Hinweis auf das 1943 errichtete KZ-Außenlager Groß-Rosen, Biesnitzer Grund, für jüdische Zwangsarbeiter, in dem nachweislich über 400 jüdische Häftlinge aus Ungarn, Polen, Tschechien und Russland ermordet wurden. Die Tour endete auf dem großflächigen Stadtfriedhof, wo bis heute nicht alle Gräber von Zwangsarbeiter*innen dechiffriert werden konnten.
Der nächste Tag führte uns nach Zgorzelec, dem polnischen Teil der durch die Oder-Neiße-Grenze geteilten, heutigen Europastadt. Hier erlebten wir ein eindrucksvolles Beispiel zivilgesellschaftlicher Gedenkstättenarbeit. Auf dem Gelände der nationalen polnischen Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Kriegsgefangenenlagers Stalag VIIIA befindet sich heute das Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur e.V., welches von der gleichnamigen Stiftung in Zusammenarbeit mit dem uns bereits bekannten Meetingpoint Memory Messiaen betrieben wird. Uns erwartete ein intensives Programm: eine Führung durch die Dauerausstellung zur Geschichte des zeitgleich mit dem deutschen Überfall auf Polen von den ersten polnischen Kriegsgefangenen errichteten Lagers, durch das ca. 120.000 Kriegsgefangene gingen und von dort aus in allen Wirtschaftszweigen, der Landwirtschaft und im Bergbau eingesetzt wurden; eine Führung über das Gelände auf den Spuren letzter architektonischer Fragmente des Lagers; ein Besuch des Ehrenfriedhofs zur Erinnerung an die mehr als 9000 hier in Massengräbern beigesetzten Kriegsgefangenen. In einem Workshop mit dem Historiker Johannes Bent identifizierten wir potentielle Forschungsdesiderate und mit dem Kulturwissenschaftler Mateusz Kowalinski diskutierten wir über Vermittlungsformen in der Gedenkstättenarbeit. Abschließend gaben uns die Mitarbeiter*innen wichtige Einblicke in ihre beruflichen Werdegänge und alltäglichen Aufgabenbereiche.

Mit der Oder-Neiße-Bahn erreichten wir am Folgetag die ca. 50 km von Görlitz entfernt liegende Kleinstadt Chrastava in Tschechien. Das ehemalige Kratzau ist nur ein Beispiel wie das nationalsozialistische Lagersystem auch den an das Deutsche Reich angegliederten „Reichsgau Sudetenland“ durchzog, zumal die Verlagerung kriegswichtiger Produktionszweige seit 1943 in das von alliierten Bombenangriffen weniger betroffene Gebiet wie auch in das angrenzende Schlesien von besonderer Bedeutung für die weitere deutsche Kriegsführung war. Der Historiker und Geologe Ivan Rous, Mitarbeiter des Nordböhmischen Museums in Liberec, führte uns auf einer regenreichen Wanderung zu architektonischen Überresten von Kriegsgefangenenlagern, KZ-Außenstellen sowie zum Barackenlager Spreewerke. Als Erinnerungsorte sind diese bisher nicht ausgezeichnet: es gibt zu viele solcher Orte auf dem Gebiet der Tschechischen Republik. Insgesamt wurde uns deutlich, wie prekär die vagen Ansätze transnationaler Forschung und Erinnerungsarbeit tatsächlich aufgestellt sind und welche Hürden sprachlicher, mentaler und politischer Art erst überwunden werden müssen, damit grenzüberschreitende Forschung und Vermittlung stattfinden kann.
Bericht von Dr. Freia Anders
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